Vorwort
Prolog
Bereits während des Krieges haben sich meine Eltern kennengelernt. Mein Vater war zu der Zeit Fanfarenzugführer, obwohl er schon damals so was von unmusikalisch war. Aber wahrscheinlich braucht man für diese Art Musik, nach der hauptsächlich im Gleichschritt bzw. Stechschritt marschiert werden soll, auch keine besondere Musikalität. Es geht dabei wohl eher um etwas anderes, nämlich einen Kampfgeist zu entfachen und schließlich so etwas wie Ekstase dabei zu entwickeln.
In unserer kleinen Stadt Wilhelmshaven gab es gleich zwei von diesen Fanfarenzugführern. Vergleichbar mit heute, hätten sie in etwa den Status eines Popstars! Natürlich wurden sie auch schon damals von den Mädels heiß begehrt. Und der nur schwer zu glaubende „Zufall“ wollte es, dass die Zwei komischerweise auch noch „Otto Lange“ hießen! Ja, Sie haben richtig gelesen. Alle beide hießen Otto Lange.
Der eine Otto Lange war blond und der andere war schwarzhaarig. Mein Vater war der Schwarzhaarige.
Natürlich bildeten sich, wie es sich gehört, auch sofort zwei Fanlager von Mädchen, die jeweils für den einen oder den anderen Otto Lange schwärmten. Meine Mutter gehörte der zweiten Gruppe an, die den schwarzhaarigen Otto Lange begehrte.
So war damals bei meiner Mutter, sie hieß Gertrud, man nannte sie Trudi, scheinbar das einzige Kriterium an einen Mann, dessen Haarfarbe. Er war schwarzhaarig, meine Mutter blond und da Gegensätze sich bekanntlich anziehen, gab es zunächst auch keine weiteren Details, die außerdem noch zur Debatte standen. Doch, wie gesagt, das war „zunächst“, denn bald sollte sich das ändern. Sogar sehr ändern!
Jeden Abend musste ich mich wieder erneut zwingen, nicht dort hinzusehen, denn das Bild wirkte auf mich sehr bedrohlich. Ich bekam dann sofort fürchterliche Angst und konnte auch nicht mehr einschlafen.
Außerdem gab es noch einen größeren Raum, der als Küche fungierte. Doch sie war in keiner Weise mit einer Küche von heute zu vergleichen. Lediglich das Waschbecken erinnerte an den Zweck dieses Raumes. Es war riesig groß, hing in einer Ecke an der Wand und hatte die, damals übliche, Elfenbeinfarbe.
Ich werde bei dem Anblick immer an die kalte und sterile Krankenhausausstattung erinnert. Meine Mutter musste darin abwaschen, aber außerdem haben sich meine Eltern auch daran gewaschen.
Dieses ominöse Ding wurde damals „Ausguss“ genannt! Der Ausdruck „Waschbecken“ war, soweit ich mich erinnern kann, zu der Zeit noch gar nicht üblich. Duschen oder geschweige denn, eine Badewanne, gab es natürlich nicht. Die Toilette war im Hausflur und wurde üblicherweise auch von anderen Mietern benutzt. Neben dem „Ausguss“ stand eine ungewöhnlich hohe Holzkiste, auf die ich immer gesetzt wurde, um abends, wenn es ins Bett ging, gewaschen und bettfertig gemacht zu werden.
Zur anderen Seite hin stand ein großer Herd, der mit Feuer funktionierte. Im unteren Teil des Herdes musste also ein Feuer entzündet werden, sodass einerseits die Küche geheizt wurde, und andererseits auf dem oberen Teil gekocht werden konnte.
Die Küche war für uns der Lebensmittelpunkt. Hier spielte ich auf dem Fußboden oder am Tisch immer mit Autos oder autoähnlichen Gebilden.
Es war übrigens der einzige Raum, der beheizt werden konnte!
Die Küche lag nach hinten zum Hof ’raus, und ganz unten im Hof befand sich eine Sandkiste.
Wie mir meine Mutter erzählte, muss ich etwa zweieinhalb gewesen sein, als sie kurz das Zimmer verließ, um im Hausflur die Toilette aufzusuchen. Ich saß am Tisch und spielte. Es war Sommer und das Fenster, das sich über dem Tisch befand, war sperrangelweit geöffnet. Draußen in der Sandkiste hörte ich die spielenden Kinder. Neugierig geworden, kletterte ich auf den Tisch und stapfte unbeholfen in Richtung Fenster. Vornübergebeugt wollte ich natürlich auch sehen, welchen Kindern den Stimmen aus der Sandkiste denn nun zugeordnet werden konnten.
Beinahe hätte sich das Schreiben dieses Buches schon erledigt und mein Leben wäre jäh zu Ende gewesen, bevor es richtig angefangen hatte.
Aber in diesem Augenblick kam meine Mutter wieder herein und erlitt fast einen Herzschlag, als sie mich am offenen Fenster und vornübergebeugt sah. Sie machte jetzt einen großen, schnellen Satz nach vorn, um mich noch Sekunden vor dem drohenden Fenstersturz ganz fest packen zu können!
Frühe Kindheit
Nun bekamen wir unsere erste eigene Wohnung. Es war 1951. Sie lag ganz oben im sechsten Stock eines rechteckigen, hohen und dunklen Backsteingebäudes, ähnlich einem Bunker. Natürlich gab es dort keinen Fahrstuhl und das Treppenhaus, versehen mit einem fast schwarzen, immer blanken Linoleumbelag, war kalt und alles andere als einladend. Ich war jedes Mal heilfroh, wenn ich oben angekommen war und endlich unsere Wohnung erreicht und dieses unheimliche Treppenhaus hinter mir hatte.
Meine Oma, damals etwa fünfzig, hatte uns einmal dort besucht. Es war die Oma Kathi. Sie hatte noch eine ganze Menge weiterer Vornamen, die ich nie vergessen werde. Ich war davon unsagbar beeindruckt, denn ihr voller Name lautete: Katherina, Frederika, Eugina, Gesina Eisensee, geborene Janssen!
Nachdem sie endlich ganz oben unsere Wohnung erreicht hatte, war sie so sehr aus der Puste, dass sie eine zeitlang kaum noch sprechen konnte. Keuchend wiederholte sie immer wieder: „Oma ist so schachmatt, Oma ist sooo schachmatt!“
Daraufhin musste sie erstmal drei Zigaretten hintereinander rauchen, um sich wieder einzukriegen. Da sie recht hartgesotten war, rauchte sie natürlich ohne Filter von der Marke „Virginia“, wovon ihre tägliche Ration etwa bei hundert Stück lag. Später stieg sie um auf „Senoussi“. Dazu trank sie mit Vorliebe immer einen Weinbrand, Asbach.
Schon bald entzündete sich ihr Bein infolge der Vergiftung durch das viele Rauchen. Am Übergang zum Fuß entstand eine offene Wunde, die nicht mehr verheilte. Sie wurde von Jahr zu Jahr größer und hatte nach 25 Jahren fast die Ausmaße ihres Fußes.
Das sogenannte offene Bein schränkte sie soweit ein, dass sie nur unter größten Schmerzen und humpelnd laufen konnte.
Rund eine Stunde war sie jeden Morgen damit beschäftigt, ihr offenes Bein zu salben und zu verbinden. Da sie aber auch leidenschaftlich gern Asbach trank, hatte sie einen Teil des Flascheninhalts dazu verwendet, ihr Bein einzureiben, um somit eine Durchblutung anzuregen.
Offenbar ist sie nach der Logik verfahren, dass sie annahm, was ihr schmecke, könne für ihr Bein auch nicht schlecht sein!
Doch niemals hätte sie, selbst nicht im Traum, daran gedacht, mit dem Rauchen aufzuhören oder es zu reduzieren. Nein, sie konnte den Konsum zuletzt sogar noch auf weit über 100 Stück steigern, sodass sie höchstens noch zwei Stunden schlief. Sie lag dann nachts unter Schmerzen wach im Bett und schmökte eine nach der anderen. Trotzdem war sie, auch wenn es zu glauben schwerfällt, immer guter Dinge!
Wir hatten in dieser ersten Wohnung zwei Zimmer. Ein Schlafzimmer, in dem auch mein Kinderbett stand und ein Wohnzimmer, das aber so gut wie nie benutzt wurde. Außerdem hatten meine Eltern dafür auch gar keine Möbel.
Die Miete betrug, glaube ich, etwa dreißig Mark.
Ja, Anfang der Fünfziger waren es noch ganz andere Kurse, als heute in unserer, auf allen Gebieten, inflationären Welt.
Mit Grausen erinnere ich mich daran, dass über meinem Bett ein Bild mit einem schwarzen Scherenschnitt hing. Darauf schauten immer Hänsel und Gretel ängstlich auf mich herunter. Davor stand die alte Hexe, gebückt und sich an einem Stock aufstützend. Sie sah ihre beiden Opfer mit durchdringendem bösem Blick an.
O.k., jetzt stand es also erst recht fest, den harten Weg gehen zu müssen und mich nicht mittels der schnelleren Variante davonstehlen zu dürfen!